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2019.11.29 Die Linke greift nach der Macht

2. Dezember 2019

Lesenswerter Leitartikel von Eric Gujer in der NZZ vom 30.11.2019

 

Die Linke greift nach der Macht

Bei der Debatte um die Zauberformel geht es nur um eines: um die Macht. SP und Grüne wollen mehr Einfluss im Bundesrat, weil sie ein klares Programm verfolgen – mehr Reglementierung, mehr Staatseinfluss und weniger Wirtschaftsfreiheit.
Wer die Zauberformel erhalten möchte, spielt nicht mit ihr.

Über das Ungeheuer von Loch Ness ist schon viel geredet worden, aber noch niemand hat es je gesehen. Mit der Revision der Zauberformel verhält es sich ähnlich. Die ganze Welt, also tout Bern, spricht darüber, aber auch diesmal bleibt alles so, wie es ist. Dennoch lohnt es, sich Gedanken über dieses seltsame Konstrukt zu machen.
Die Zauberformel kann keinen Verfassungsrang beanspruchen, und sie trägt den Hautgout, nicht mehr zu sein als eine Absprache zwischen etablierten Parteien auf Kosten der Newcomer. Sie ist undemokratisch, weil sie den Wahlausgang und damit den Wählerwillen bei der Regierungsbildung ignoriert. Puristen müssen daher nicht die Anpassung der Zauberformel verlangen, sondern deren Abschaffung. Alles andere wäre halbherzig und nur eine Konzession an die Ambitionen der Grünen.

 

Cassis setzt Akzente

Aber die Zauberformel garantiert auch Stabilität. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil ist das politische System der Schweiz alles andere als träge. Wenn es um die Offenheit für neue und unkonventionelle Themen geht, ist es vermutlich sogar das dynamisch-ste System in ganz Europa. Das Anliegen, wonach Kühe Hörner tragen sollen, wäre überall sonst in der Agrarkommission des Parlaments kurz beraten und dann unter viel Papier begraben worden. Wenn die Konzernverantwortungsinitiative und die Begrenzungsinitiative angenommen werden, verschlechtern sich auf einen Schlag die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Die direkte Demokratie ist ein machtvoller Game-Changer.

Bei so viel potenzieller Disruption kann ein Ausgleich nichts schaden. Die Zauberformel funktioniert wie ein Stossdämpfer, der die manchmal holprigen Bahnen des Volkswillens auszugleichen hilft. An der Blockade nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative hätte eine parlamentarisch abgestützte Regierung zerbrechen können. Dennoch steuerte der Bundesrat den bewährten Kurs, während das Parlament nach etlichen Irrungen und Wirrungen eine Lösung fand.

Dass die beiden Kammern dabei den Volkswillen freihändig interpretierten (oder besser gesagt: ignorierten), hätte in einem
anderen System in eine Verfassungskrise münden können. All das geschah nicht, und das ist eben auch das Verdienst dieses seltsamen Konstrukts. Solche Überlegungen sind keineswegs aus der Luft gegriffen, wie drei Jahre Selbstverstümmelung der britischen Politik infolge des Brexit-Referendums zeigen.
Führte also jeder deutliche Wahlsieg einer Partei zu einer veränderten Zusammensetzung des Bundesrats, würde die Zauberformel ihres eigentlichen Sinnes beraubt. Sie wäre dann nicht mehr Stossdämpfer, sondern im Gegenteil Turbolader. Deshalb musste sich auch die SVP nach ihren noch um einiges eindrücklicheren Wahlsiegen gedulden, bis sie einen zweiten Sitz im Bundesrat zugesprochen erhielt. Wer die Zauberformel erhalten möchte, spielt nicht mit ihr. Der Zauber dieser Formel liegt gerade darin, dass nicht ständig an ihr herumgeschraubt wird. Von der Revision ist es nicht weit bis zur Dekonstruktion.

Die zentrale Frage der Debatte lautet natürlich, welche Bundesratspartei in der jetzigen Konstellation einen Sitz abgeben müsste. Die Linke schoss sich rasch auf die FDP und Ignazio Cassis ein. Das allerdings ist leicht durchschaubar. Der SP-Präsident Christian Levrat drosch auf Cassis und dessen angebliche Stümperei in der Europapolitik ein, um von der halsbrecherischen Volte seiner
Partei abzulenken. Auf Druck der Gewerkschaftslobby mutierten die Genossen von «Euro-Turbos» zur «SVP light», die das Rahmenabkommen mit allen Mitteln bekämpft.
Levrats Politik ist gescheitert. Die SP verlor bei den Wahlen massiv – im Ständerat ein Viertel ihrer Sitze –, der Architekt der Niederlage tritt ab. Wenn man bei der Besetzung des Bundesrates auf aktuelle Verschiebungen reagieren möchte, wäre es nahe-liegender, den Sozialdemokraten einen Sitz abzuknöpfen. Ohnehin wäre es plausibel, wenn die Rochaden im jeweiligen politischen Spektrum stattfinden. Der zweite Bundesratssitz der SVP ging auf Kosten der CVP. Er blieb also innerhalb des bürgerlichen Lagers. Jetzt ist, wenn überhaupt, Links-Grün an der Reihe.
Die Angriffe Levrats auf Cassis sind nicht nur leicht durchschau-bar, sondern entbehrten auch der sachlichen Grundlage. Der Aussenminister hatte bei Amtsantritt einen europapolitischen Scherbenhaufen vorgefunden. Das Rahmenabkommen war ein Torso, die Verhandlungen steckten fest. Unterdessen liegt ein Vertragstext vor. Wenn sich der Bundesrat doch noch ermannt und das Abkommen weiterleitet, werden Parlament und Volk die Gelegenheit erhalten, ihr Votum dazu abzugeben. Cassis hat geliefert. Es liegt nun am Gesamtbundesrat, den Souverän zu seinem Recht kommen zu lassen.

 

Nützliche Idioten gesucht

Vergleicht man diese Leistung mit Alain Bersets Flickwerk auf den Dauerbaustellen AHV und zweite Säule, dann müsste eher der Innenminister seinen Sitz räumen. Aber diese Forderung wäre genauso unsinnig wie der Ruf der Linken nach einer Abwahl oder Strafversetzung von Cassis. Der Sozialdemokrat wie der Freisinnige sind Vollblutpolitiker, deren Gestaltungswillen sich erfrischend abhebt von der Neigung des Bundesrats zur aktengesättigten Administration. Es wäre grundfalsch, Richtungsentscheidungen für das Regierungssystem von tagespolitischen Launen und personellen Rankünen abhängig zu machen.

Cassis verlor nach Amtsantritt keine Zeit und setzte einige markante Ausrufezeichen. Konflikten geht er nicht aus dem Weg. Das Aussendepartement hat nach einer Schwächephase wieder eine starke politische Führung, was den selbstbewussten Diplomaten nicht unbedingt behag In der Vergangenheit sah sich die Schweizer Diplomatie vor allem zuständig für das Wahre, Schöne und Gute: für gute Dienste, für humanitäre Hilfe und Entwicklung. Es war verpönt, die eigenen Interessen zu betonen und einzugestehen, dass Schweizer Aussenpolitik oft Aussenhandelspolitik ist. Cassis ist da ehrlicher, und er liess den Worten Taten folgen. So wurde die Entwicklungshilfe anders ausgerichtet.

Die Förderung von Frieden und Menschenrechten nahm breiten Raum in der Arbeit des Aussenministeriums ein, obwohl die Resultate wie bei der Kampagne gegen die Todesstrafe bescheiden blieben. Heute kommen neue Prioritäten hinzu wie die Cyber-Diplomatie, welche den Schweizer Standpunkt etwa bei der Formulierung neuer internationaler Standards für künstliche Intelligenz und autonome Waffensysteme vertritt. Obwohl die Uno-Stadt Genf hier eine wichtige Rolle spielt, gelang es der Schweiz bisher nicht, sich angemessen Gehör zu verschaffen.
Verschiebungen der Arbeitsschwerpunkte sind nicht bloss bürokratische Prozesse, sondern eminent politisch. Dem sozial-liberal geprägten Departement missfällt der Paradigmen-wechsel, vor allem wenn er heilige Kühe wie die Israel-Politik betrifft. Cassis vertritt hier andere Ansichten als die langjährige sozialdemokratische EDA-Vorsteherin Micheline Calmy-Rey, deren Sympathien einseitig bei den Palästinensern lagen. Der Feldzug gegen Cassis ist also die Rache einer Partei und die Retourkutsche einer Ministerialverwaltung.

Damit ist man endgültig in den Niederungen der Politik angekommen, dort, wo die Entscheidungen fallen. Gleichgültig, welche idealistischen oder arithmetischen Argumente für die Revision der Zauberformel vorgebracht werden, geht es am Schluss nur um eines: um die Macht. Die Linke will mehr Einfluss im Bundesrat, um ihren Traum einer reglementierten Schweiz mit starkem Staat und schwachen Bürgern zu verwirklichen. Sie hat der CVP die Rolle der nützlichen Idioten zugedacht, welche die nötigen Stimmen für den Angriff auf den FDP-Sitz im Bundesrat beschaffen. Aber die selbsternannte Mitte lässt sich noch nicht vor diesen Karren spannen. Sie würde nichts gewinnen und vieles verlieren, vor allem den Goodwill der anderen bürgerlichen Parteien. In vier Jahren kann es anders aussehen.

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