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2017.10.26 Die SVP fährt eine klare Abschottungspolitik, die wir nicht teilen können

26. Oktober 2017

In der EU-Politik sind sie sich einig: Eine Lösung
der institutionellen Fragen braucht es gemäss
FDP-Präsidentin Gössi und CVP-Präsident Pfister
im Moment nicht. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Bericht NZZ: Heidi Gmür, Michael Schoenenberger 26.10.2017, 05:30 Uhr

 

 

Nach dem Nein zur Rentenreform beginnt quasi die Stunde null. Raufen sich CVP und FDP zusammen für eine gemeinsame Lösung?

Gerhard Pfister: Man hat die Pflicht, hier möglichst rasch eine neue Vorlage zu bringen. Dabei gilt es, mit allen Parteien zu sprechen und auch mit dem zuständigen Bundesrat Alain Berset. Es ist aber noch zu früh, um zu sagen, was die gemeinsamen Punkte sein könnten.

 

Unabhängig vom Inhalt: Braucht es ein Zusammengehen von CVP und FDP, damit eine Neuauflage eine Chance hat?

Petra Gössi: Ja, ich denke schon. Aber auch wir sprechen mit allen. Und was wir Bundesrat Berset hoch anrechnen, ist, dass er alle Beteiligten für diese Woche bereits zu einer Aussprache eingeladen hat. Was man sagen kann: Zweimal hat das Volk nun einen Ausbau der AHV abgelehnt. Das Ziel ist daher: kein Ausbau, aber auch keine Rentenreduktionen. Wir müssen uns irgendwo finden.

 

Sollen die beiden Säulen getrennt reformiert werden?

Pfister: Unsere heutige Position ist, dass das Volk eine inhaltliche Verknüpfung abgelehnt hat. Aber es wäre unredlich, wenn man sie auch zeitlich trennen würde. Der Stimmbürger muss wissen, wie sich sein Rentenniveau insgesamt verändert. In der ersten Säule ist der Konsens einfacher herzustellen. Wie die isolierte Sanierung der zweiten Säule gehen soll, ohne dass das Gewerbe, die Tieflohnbranche, auf die Barrikaden geht, das ist offen.

 

Frau Gössi, Sie wollen zunächst nur die erste Säule sanieren?

Gössi: Wir wollen beide Projekte gleichzeitig starten, aber die Reform der ersten Säule ist nicht nur dringlicher, man wird hier auch schneller eine Lösung finden. In der zweiten Säule käme der Impuls idealerweise von den Sozialpartnern. Eine gleichzeitige Abstimmung streben wir aber nicht an.

 

Einig sind Sie sich: Das Frauenrentenalter soll auf 65 Jahre erhöht werden?

Pfister: Ja, mit einer Kompensation.

Gössi: Genau.

 

Und wie soll diese aussehen?

Gössi: Wir sind bereit für einen Ausgleich. Eine Variante wäre, dass Leute, die vierzig Jahre lang Beiträge bezahlt haben und das Rentenmaximum nicht erreichen, weiterhin ohne Abstriche früher als mit 65 in Rente gehen könnten.

Pfister: Diese Option wurde ja auch von CVP-Vertretern bereits erwähnt. Klar ist: Ohne Kompensation tragen wir eine Reform nicht. Über das Ausmass müssen wir uns noch unterhalten.

 

Kein Ausbau, kein Abbau – das gilt für beide Säulen?

Gössi: Grundsätzlich ja. Inwiefern das für welche Übergangsgeneration auch in der zweiten Säule erreichbar ist, wird man sehen müssen.

Pfister: Es soll keine Reduktion des Rentenniveaus insgesamt geben. Das wäre mit unserer nun abgelehnten Vorlage grösstenteils erreicht worden. Ein Ziel muss es aber bleiben. Darum auch die Parallelität: Wenn der Stimmbürger nicht weiss, was ihn insgesamt erwartet, wird er auch die AHV-Reform ablehnen.

Gössi: Das schätze ich anders ein. Die Leute stehen hinter der ersten Säule, und sie sind bereit, sie auch genügend zu finanzieren.

 

Um wie viel soll die Mehrwertsteuer maximal steigen? Die SVP hätte am liebsten einen Anstieg von nur 0,3 Prozent.

Pfister: Wenn wir nur von der AHV sprechen, muss sie mindestens bis 2035 finanziert werden. Von den Gegnern wurde im Abstimmungskampf ja kritisiert, die Reform reiche nur bis 2030. Dann reichen 0,3 Prozent aber nicht.

Gössi: 0,3 Prozent sind effektiv zu tief. Es gibt keinen Grund, von den 0,6 Prozent abzuweichen. Weil wir aber auf einen Ausbau verzichten, wird die AHV damit längerfristig besser finanziert sein als mit der abgelehnten Vorlage.

 

Bisher hiess es immer, eine Rentenreform sei gegen die Linke nicht durchsetzbar, nun scheiterte erstmals eine Vorlage, die von den Linken unterstützt wurde. Glauben Sie, Sie könnten mit der SVP eine Reform durchbringen?

Pfister: Das ist definitiv nicht das Ziel. Die Idealvorstellung ist ein Konsens zwischen allen vier Bundesratsparteien. Realistischerweise werden es am Schluss aber wohl drei Bundesratsparteien sein.

 

Welche?

Pfister: Das muss man sowohl mit der SVP als auch mit der SP erörtern. Der erste Schritt ist, dass sich FDP und CVP einig werden. Von da aus kann man dann weitergehen. Ich anerkenne übrigens die harte Selbstkritik von SP-Präsident Christian Levrat an der Delegiertenversammlung der SP. Die Vorlage scheiterte tatsächlich auch am Widerstand ganz links aussen. Nur: Wohin soll er sich bewegen, ohne dass der linke Widerstand noch grösser wird? Meine tiefe Überzeugung ist es aber nach wie vor, dass wir wenigstens den pragmatischen Teil der SP an Bord holen müssen.

Gössi: Ich glaube, dass es diesen pragmatischen Teil gibt, der bereit ist, über die neue Ausgangssituation zu diskutieren. Ich würde das natürlich begrüssen. Ich habe aber zur Kenntnis genommen, dass Levrat das Referendum faktisch schon angekündigt hat. Dafür habe ich null Verständnis. Ich sehe vor allem auch, dass er sich keinen Millimeter bewegt.

Pfister: Ich halte nichts davon, dass man Levrat jetzt schon in die Defensive drängt. Das Thema ist zu wichtig und zu komplex.

 

In der Rentenreform zeigten sich FDP und CVP so unversöhnlich wie selten, während noch vor ein paar Jahren über eine Mitte-Allianz diskutiert wurde. Ist es gut für die Reformfähigkeit der Schweiz, wenn sich die beiden Parteien derart auseinanderbewegen?

Pfister: Ich sehe das relativ entspannt. Nur weil man unterschiedliche Ideen hat, heisst das nicht, dass man sich auseinanderlebt. Wir haben übrigens auch nie zusammengelebt. Es gibt auch keinen bürgerlichen Schulterschluss. Eine Blockbildung ist unschweizerisch.

 

«Es gibt keinen bürgerlichen Schulterschluss.

Eine Blockbildung ist unschweizerisch.»

Gerhard Pfister, CVP-Präsident

 

Gössi: Auch ich halte nichts von Blockbildungen. Eine Partei muss zunächst selber ihre Position finden. Und eine liberale Ausrichtung ist nun einmal eine andere als eine konservative. So kommt es dann je nach Gewichtung der Argumente zu einem Kompromiss mit der CVP, der SVP oder der SP.

 

In Ihrem Ansatz fehlt die Bereitschaft zur breiten Allianz, die die Kraft hat, Reformen durchzubringen.

Pfister: Wenn sich drei Bundesratsparteien einig sind, ist das natürlich stabiler. Und es wird diese Allianzen auch künftig geben, Beispiel: Bilaterale. Da wird die SVP mit ihrer Kündigungsinitiative zur Personenfreizügigkeit alleine gegen alle antreten müssen.

Gössi: Es gibt viele Fragen, die in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden, wo wir aber gleicher Meinung sind, auch bei grösseren Geschäften wie etwa der Energiestrategie 2050. Aber es gehört halt auch zur Politik, dass das nicht immer der Fall ist.

Pfister: Der frühere FDP-Präsident Fulvio Pelli hat den Begriff «Mitte» für die FDP ja immer abgelehnt. Wir haben hingegen immer gesagt, das sei unsere klassische Position. Heute müssen aber auch wir einen anderen Ansatz finden. Es gibt einen stärkeren Zwang, sich als Partei zu profilieren und sich damit auch abzugrenzen. Eine Entwicklung, die nicht nur, aber auch mit den Medien zu tun hat: Wir haben oft genug gehört, man wisse nicht, was «die Mitte» eigentlich wolle.

Gössi: Der Begriff «Mitte» ist tatsächlich überholt. Ich sehe eher ein Dreieck mit einem sozialdemokratischen, einem liberalen und einem konservativen Pol.

Pfister: Einverstanden, aber der dritte Pol müsste «sozial», nicht «sozialdemokratisch» heissen. Die Art und Weise, wie politisiert wird, hat sich seit den 1990er Jahren verändert. Wir stehen in einer eher polarisierten Politlandschaft, das wirkt sich auch auf die gemässigteren Parteien aus. Es ist der Übergang von einer Verhandlungs- zu einer Ideendemokratie.

 

Und wie verträgt sich das mit unserem politischen System, das sich auf Konsensbereitschaft abstützt?

Pfister: Die Konsensbereitschaft nimmt nicht ab. Es ist nur ein anderer Weg, wie man zum Konsens kommt. Ich glaube an die Kraft der Institutionen.

 

Seit den letzten Wahlen haben FDP und SVP eine hauchdünne Mehrheit im Nationalrat, im Ständerat kann die CVP weiterhin entweder mit der SP oder mit der FDP Mehrheiten bilden. Hat sich dadurch etwas geändert?

Gössi: Die Situation bei der Altersvorsorge war schon auffallend. Und es ist nicht gut für die Konsensfindung, wenn es von vornherein Blockbildungen gibt. Aber ich sehe es wie Herr Pfister: Das kann beim nächsten Geschäft wieder anders sein.

 

Dennoch: Das bürgerliche Lager wurde gestärkt. Trotzdem wächst der Staat weiter, die Spendierfreude ist ungebrochen.

Gössi: Es gibt viele Geschäfte, wo ich gerne liberalere Entscheide hätte! Aber es gibt halt immer auch Individualinteressen, die sich kumulieren. Und ebenso wie Differenzen zwischen den beiden Kammern gehört auch das zum System. Wenn die Leute jemanden wählen, wissen sie ja, wofür diese Person einsteht.

 

Wer ist denn für die FDP der verlässlichere Partner in finanz- und wirtschaftspolitischen Fragen: die CVP oder die SVP?

Gössi: Das hängt vom Bereich ab. Allgemein in Wirtschaftsfragen finden wir die Mehrheit aber eher bei der SVP, wobei wir auch da auf die CVP angewiesen bleiben. Wenn sie total anderer Meinung ist, bringen wir kaum etwas durch.

Pfister: Wirtschaftspolitisch ist klar die FDP unser verlässlichster Partner. Ich möchte schon daran erinnern: Die SVP ist gerade bei den Bilateralen höchst ambivalent unterwegs. Und die Bilateralen sind für die Schweizer Wirtschaft nach wie vor sehr zentral.

 

«Die SVP fährt eine klare Abschottungspolitik,

die wir nicht teilen können.»

Petra Gössi, FDP-Präsidentin

 

Gössi: Wenn Sie Wirtschaftspolitik auf die Bilateralen beschränken, dann ist unser Partner selbstverständlich die CVP. Die SVP fährt hier eine klare Abschottungspolitik, die wir nicht teilen können.

 

Der neue freisinnige Bundesrat Ignazio Cassis hat noch vor Amtsantritt eine schlechte Figur gemacht: Er tritt dem Waffenverein Pro Tell bei, dann wieder aus. Das wirkt reichlich opportunistisch!

Gössi: Das ist ein riesiger Medienhype. Er wurde von Pro Tell angefragt, ob er Mitglied werden wolle, und Cassis war bereits zuvor in einer ähnlichen Tessiner Organisation.

 

Und warum tritt er dann wieder aus?

Gössi: Er will alle Vereinsmitgliedschaften überprüfen.

 

Der Austritt aus Pro Tell war doch offensichtlich eine Folge des öffentlichen Drucks.

Gössi: Nein, denn offenbar wurde in diesem Zusammenhang auch sein Name missbraucht. Entscheidend ist aber etwas ganz anderes: Cassis hat die Schengen/Dublin-Abkommen, welche Pro Tell aufs Spiel setzen will, stets verteidigt. Daran hätte auch seine Mitgliedschaft nichts geändert. Aber aufgrund seiner Funktion als Aussenminister hätte es eine Interessenkollision geben können. Deshalb ist es meines Erachtens sinnvoll, dass er wieder ausgetreten ist.

 

Dann wäre es besser gewesen, wenn er gar nie beigetreten wäre.

Gössi: Dann hätte es den ganzen Medienrummel nicht gegeben. Von daher ja, das wäre einfacher gewesen.

 

Sehen Sie das auch so unproblematisch, Herr Pfister?

Pfister: Herr Cassis stand einen Sommer lang unter medialer Dauerbeobachtung – und er hat lange keinen Fehler gemacht. Das müssen Sie zuerst einmal durchstehen. Die Geschichte mit Pro Tell war hingegen ein Fehler. Er hat ihn jetzt korrigiert. Daraus aber etwas über seine Fähigkeiten als Bundesrat abzuleiten, finde ich schon masslos übertrieben.

 

Sie sehen da keinen Opportunismus?

Pfister: Da gebe ich ihm jetzt tatsächlich mehr als ein «im Zweifel für den Angeklagten».

 

Die Wahl von Cassis ist mit der Erwartung verbunden, dass der Bundesrat wieder bürgerlicher werde. Was erwarten Sie?

Gössi: Ich erwarte von unseren beiden Bundesräten, dass sie mit einer Stimme sprechen. Vom Gesamtbundesrat erwarte ich vor allem mehr Führung, gerade auch im EU-Dossier. Es soll klar erkennbar werden, wer hier im Lead ist.

Pfister: Ich erwarte, dass die Bundesräte ihren Job machen. Dass sie einerseits ihre Departemente gut führen und sich andererseits als Siebnergremium finden und geeint als Landesregierung auftreten. Die Hoffnung, dass es nun einen fixen Block gibt, ist genauso falsch wie die Befürchtung, dass es ihn geben wird. So funktioniert das schweizerische System nicht.

 

Ist auch die Hoffnung falsch, dass der Bundesrat etwas weniger links angehauchte Entscheide fällt?

Pfister: Das hat er auch bisher nicht getan. Die Energiestrategie zum Beispiel hat auch die Zustimmung der FDP gefunden. Woran unsere Landesregierung wirklich krankt, ist, dass zu viele Bundesräte ihre Aufgabe departemental verstehen und die Gesamtsicht fehlt.

 

Die Kritik am angeblich zu wenig bürgerlichen Bundesrat kommt ja vor allem von FDP und SVP. Ist CVP-Bundesrätin Doris Leuthard für Sie, Frau Gössi, keine «Bürgerliche»?

Gössi: Die Kritik kommt nicht von mir.

Pfister: Selbstverständlich ist Leuthard eine bürgerliche Politikerin! Sie ist auch liberaler, als manche meinen. Wenn SVP und FDP trotzdem meinen, der Bundesrat sei zu wenig bürgerlich, müssen sie sich vielleicht auch fragen, ob es nicht daran liegt, dass ihre Vertreter nicht zu den stärksten Figuren im Bundesrat gehören.

Gössi: Dass die Kritik bei knappen Entscheiden immer auf unseren Bundesrat Didier Burkhalter abzielte und ihm vorgeworfen wurde, er sei nicht bürgerlich, war unfair, auch von den Medien. Gerade wenn man davon ausgeht, dass die CVP bürgerlich ist, hätte man sich ja auch fragen müssen: Wo stand in diesen Fragen Frau Leuthard?

 

Sie erwarten in der Europapolitik eine klare Führung. Cassis hat den Ausdruck «Reset-Knopf» geprägt. Gibt es diesen Knopf?

Gössi: Ja, wenn man ihn so versteht, dass man wegkommen soll von Begrifflichkeiten wie «institutionelles Rahmenabkommen», das heute ja gar noch nicht ausgehandelt ist und dessen Inhalt das Parlament noch nicht kennt. Wichtig ist, dass wir den bilateralen Weg stärken und zukunftstauglich machen können. Man kann aber nicht in dem Sinne auf den «Reset-Knopf» drücken, dass man die Verhandlungen einfach abbricht und wieder von vorne beginnt, weil das viel zu lange dauern würde. Das will auch Cassis nicht.

Pfister: Ich werde das mit grossem Interesse verfolgen. Wenn man Tempo rausnimmt, wie es der Bundesrat ja bereits getan hat, und die Debatte versachlicht, ist das sehr zu begrüssen.

 

Es war Frau Leuthard, die das Thema als Bundespräsidentin jüngst wieder vermehrt auf die Agenda setzte. Will sie in diesem Jahr noch ein Resultat erzielen?

Pfister: Die Frage ist, welches Resultat. Zusammen mit Burkhalter hat sie bereits eine Deblockierung erreicht. Frau Leuthard hat aber sicher nie beabsichtigt, Erwartungen hinsichtlich eines Durchbruchs bei den Verhandlungen über die institutionellen Fragen zu schüren.

 

Sie hat gegenüber der CVP mehrfach dafür plädiert, dass sich die Partei nicht vom Ziel einer institutionellen Lösung verabschiedet. Hat sie die Partei hinter sich?

Pfister: Wenn es um die Weiterführung des bilateralen Wegs geht, ja.

 

Und braucht es dafür eine Lösung der institutionellen Fragen?

Pfister: Es braucht sie nicht jetzt.

 

Später aber schon – warum also warten?

Pfister: In der direkten Demokratie ist Aussenpolitik auch Innenpolitik. Ich will zuerst die Bevölkerung das Verhältnis zu den Bilateralen über die Kündigungsinitiative der SVP klären lassen.

Gössi: Es braucht tatsächlich nicht sofort eine Lösung, der Grund dafür ist aber der Brexit. Die EU wird heute zu keinen Konzessionen mit der Schweiz bereit sein, weil sie sonst ein Präjudiz für die Verhandlungen mit Grossbritannien schaffen würde.

 

Sie haben die Personenfreizügigkeit angesprochen. Wie kommt es eigentlich, dass FDP und CVP so überzeugt davon sind, dass es sie zwingend braucht, die SVP hingegen so überzeugt ist, dass der wirtschaftliche Wohlstand der Schweiz auch ohne sie gesichert wäre?

Pfister: Ich bin nicht einmal so sicher, ob die SVP davon derart überzeugt ist. Sie spielt letztlich ein Doppelspiel und provoziert Entscheide, deren Konsequenzen sie dann aber nicht tragen will. Das ist unredlich. Nehmen Sie die Masseneinwanderungsinitiative: Da sagte sie vor der Abstimmung selber stets, die Bilateralen seien damit nicht gefährdet. Darum wäre ich eben auch froh, wenn man die neue Initiative, die sie jetzt vorschlägt, auch wirklich in ihrer Extremform lesen würde: Bilaterale Ja oder Nein.

 

Wenn Sie könnten, nähmen Sie die Bilateralen aber auch ohne die Personenfreizügigkeit?

Gössi: Es braucht auch die Freizügigkeit. Man darf sie aber nicht überspannen. Es soll keine Einwanderung in die Sozialversicherungen stattfinden, und die Wirtschaft muss sich bewusst sein, dass sie zuerst einmal zu den Schweizern schauen muss. Das ist nicht etwas, was der Gesetzgeber verordnen kann.

 

Konkret: Erträgt die Schweiz über die nächsten zehn Jahre erneut eine durchschnittliche Nettozuwanderung von 80 000 Personen pro Jahr?

Gössi: Diese Geschwindigkeit war tatsächlich zu hoch, das muss sich ändern, sonst gibt es automatisch eine Gegenbewegung in der Bevölkerung. Aber: Solange wir Pflegepersonal brauchen und die Schweizer nicht bereit sind, diese Lücken zu füllen – was wollen Sie denn da machen?

Pfister: Ich sehe es wie Frau Gössi: Die Wirtschaft ist verantwortlich für die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit, nicht die Politik. Wenn die Wirtschaft den Inländervorrang konsequent und selbstverantwortlich umsetzen würde, wenn sie bereit wäre, ältere Arbeitnehmer nicht durch jüngere, günstigere Ausländer zu ersetzen, dann müssten wir uns keine Sorgen machen. Dann gäbe es auch keine so hohe Nettozuwanderung mehr.

Gössi: Das war jetzt ein sehr liberales Votum! (Lacht.)

 

Herr Pfister, Frau Leuthard hat angekündigt, sie werde spätestens Ende dieser Legislatur zurücktreten. Muss sie mit einer Frau ersetzt werden?

Pfister: Die CVP hat einst die jüngste Bundesrätin gestellt und ist nun seit fast zwölf Jahren wieder mit einer Frau vertreten. Aber es besteht tatsächlich das Risiko, dass danach temporär nur noch eine Frau im Bundesrat vertreten sein wird. Ich werde daher auch alles dafür tun, dass die CVP auf ihrem Ticket mindestens eine Frau hat.

Gössi: Jede Partei, die eine Kandidatur stellen darf, steht unter dem Druck, auch das Gesellschaftsbild abzubilden. Ich gehe aber mit Herrn Pfister einig: Man kann nicht einfach sagen, es müsse jetzt eine Frau gewählt werden. Es geht darum, eine Auswahl zu stellen. Danach ist es Sache der Bundesversammlung.

 

Hat nicht die FDP als Partei ein Interesse daran, endlich wieder eine Frau im Bundesrat zu haben – und wenn sie es hat, müsste sie das nächste Mal nicht konsequenterweise ein Frauen-Doppelticket bringen?

Gössi: Parteipolitisch habe ich tatsächlich ein Interesse daran. Aber ich bin nicht bereit, mich jetzt schon in der Strategie einzuschränken. Man muss ja dann, wenn es eine Vakanz gibt, auch die Kandidaten zur Verfügung haben.

 

Eine Frau wäre aber der Idealfall?

Gössi: Ich erachte es nicht als Idealfall, wenn ich von vornherein alle Männer von einer Kandidatur ausschliesse. Das Ziel muss sein, dass man die fähigsten und besten Leute ins Rennen schickt. Die FDP hatte ja nicht deshalb keine Frauen mehr im Bundesrat, weil wir keine aufgestellt hätten, sondern weil die Linken sie nicht gewählt hatten.

 

Karin Keller-Sutter hätte die Wahl womöglich geschafft, wenn die SVP keine Kampfkandidatur aufgestellt hätte.

Gössi: Aber auch dann, wenn sie die Stimmen der SP gehabt hätte. Ich finde es einfach scheinheilig von der SP.

 

Herr Pfister, würden Sie sich bei einer freisinnigen Vakanz ein Frauen-Doppelticket wünschen?

Pfister: Da habe ich gar nichts zu wünschen! (Lacht.) Ich glaube aber weiterhin daran, dass die Chancen von Frauen erhöht würden, wenn es gleichzeitig zu mehreren Vakanzen käme.

 

Sollen sich Johann Schneider-Ammann und Doris Leuthard also absprechen?

Gössi: Das ist nicht an uns zu entscheiden.

Pfister: Koordination heisst nicht zwingend gleichzeitiger Rücktritt. Ein Bundesrat soll aber nicht nur bei seiner Wahl mit dem Landeswohl argumentieren, sondern auch bei seinem Rücktritt.

Gössi: In der Realität ist es einfach so: Ein Bundesrat tritt zurück, wann er es will. Damit muss man leben.

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